Von Städten, die neu gedacht werden müssen: Dr. Tilo Nemuth hat den Masterplan

Dr. Tilo Nemuth (Geschäftsführer bei Julius Berger) und Michél-Philipp Maruhn (Host & Founder DIGITALWERK)

Dr. Tilo Nemuth (Geschäftsführer bei Julius Berger) und Michél-Philipp Maruhn (Host & Founder DIGITALWERK)

Wie der Geschäftsführer von Julius Berger International GmbH mit seiner Projektgesellschaft Wohnraumprobleme lösen will und warum dies nicht ohne Politik und Kooperationen gelingt

Julius Berger International gehört zu den renommiertesten Generalplanern im Rhein-Main-Gebiet. Die Kernkompetenzen liegen in der Planung, den Bau und die Instandhaltung von Immobilien und teils hochkomplexer Gebäude, zum Beispiel aus der Industrie. Dr. Tilo Nemuth ist einer der Geschäftsführer im Unternehmen. Dabei ist er von Grund auf eigentlich Handwerker.

Tilo Nemuth wurde 1972 in Bautzen geboren und absolvierte eine Ausbildung zum Maurer, bevor er schließlich an der Technischen Universität Dresden Bauingenieurwesen studierte. Er weiß, was das bedeutet, auf der Baustelle zu stehen, mitten im Dreck. Tilo Nemuth arbeitete als Bauleiter bei der Dyckerhoff & Widmann AG, als Gruppenleiter im Angebotswesen der Bilfinger Berger AG. und übernahm letztlich die Leitung des Technischen Innendienstes bei der Bilfinger Berger Nigeria GmbH.

2009 wechselte er zur Julius Berger Nigeria Plc. Sechs Jahre später kehrte er nach Wiesbaden zurück, um die Führung der baubetrieblichen Abteilungen der Julius Berger International GmbH zu übernehmen und die strategische Neuorientierung des Unternehmens zu begleiten. 2020 wurde er in die Geschäftsführung berufen, wo er die Bereiche Business Development, IT-Strategie, Vertrieb, Hochschulmarketing und Qualitätsmanagement koordiniert. 

Julius Berger International hat unter anderem den Bau der Konzernzentrale von HeidelbergCement begleitet, die Erweiterung des Frankfurter Flughafens durch ein drittes Terminal realisiert und die afghanische Staatsdruckerei in Kabul projektiert und gebaut. Zahlreiche Infrastruktur- und Hochbauvorhaben werden darüber hinaus in Nigeria umgesetzt. Die Muttergesellschaft von Julius Berger International, die  Julius Berger Nigeria Plc mit Sitz in Nigeria, besteht seit den 1960er-Jahren und gilt inzwischen als eines der größten westafrikanischen Bauunternehmen

Alles Begann mit dem Bau der Eko-Bridge in Lagos. Über ein Kapitalhilfe-Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Nigeria erhielt Julius Berger 1965 den Auftrag für den Bau der Brücke. Nach zahlreichen weiteren erfolgreichen Projekten in Nigeria wurde fünf Jahre später die Julius Berger Nigeria Ltd. gegründet. 

Das erste grundsätzliche Bauprojekt von Julius Berger wurde bereits 1890 umgesetzt. 1912 gelang dem Unternehmen mit dem Auftrag für einen großen Eisenbahntunnel in der Schweiz der Einstieg ins internationale Baugeschäft. 1948 erklärte die Firma Wiesbaden zum Hauptfirmensitz.

Die Gesellschaft in Wiesbaden unterstützt in Teilen den nigerianischen Konzern. Dazu gehören technische Planungsleistungen, Projektsteuerung, Material- und Personalbeschaffung sowie eine tiefgreifende administrative und kaufmännische Betreuung. Daneben besteht die Hauptaufgabe der hessischen Gesellschaft in der Kundenbetreuung auf dem deutschen Markt, in der Regel von Logistikern und Bauunternehmen

Sind 400.000 Wohnungen jemals realistisch?

Zu den umstrittenen Fragen in der Branche zählt die nach der Lösung bundesweiter Wohnungsbauprobleme. Der Wohnungsbau weist nach wie vor den höchsten Anteil am Bauvolumen auf.  400.000 Wohneinheiten pro Jahr lautete einst die Zielsetzung der Bundesrepublik Deutschland. Die Realität sieht anders aus: 230.000 bis 250.000 Wohneinheiten schafft die Branche derzeit jährlich. 

„Ich sehe die Wohnungsbauziele der Regierung sehr kritisch. Ich glaube, die Ziele waren schon immer unrealistisch. Ich habe den Eindruck, dass wir am Markt vorbei bauen. Wir müssen für den Mittelstand bauen, für den Polizisten oder die Krankenschwester. Der Mittelstand kann aber keine 9.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche zahlen.“

Die Wohnungsmärkte zeigen sehr unterschiedliche Entwicklungstendenzen. In wachsenden Städten und Regionen explodiert die Nachfrage nach Wohnraum seit Jahren. Mit diesem Trend sind häufig Immobilienpreis- und Mietensteigerungen verbunden. Andere, oftmals ländliche Regionen verzeichnen hingegen hohe Wegzug-Raten. Die Bevölkerungsverluste führen zu Wohnungsleerständen, steigenden einwohnerbezogenen Kosten für die öffentliche Infrastruktur sowie zu einer Ausdünnung von Versorgungseinrichtungen

Laut Tilo Nemuth  trägt der Mittelstand dazu bei, dass Städte und Quartiere das Lebenswert-Siegel bekommen. Wenn sich Mittelständler jedoch in Städten wie Frankfurt am Main, Berlin, München oder Stuttgart keine Wohnung mehr leisten können und ins Umland gedrängt werden, entsteht darüber hinaus ein gesellschaftspolitisches Problem: soziale Segregation

Die Konzentration auf Neubauvorhaben darf nicht losgelöst vom Sanieren im Bestand betrachtet werden, auch weil die zur Bebauung ausgewiesenen Flächen in Deutschland inzwischen rar sind. Im Herzen einer der großen Metropolen ein Eigenheim zu besitzen, ist inzwischen ein luxuriöses Privileg. Für Familien, die ein Haus bauen wollen, gestaltet sich die Grundstückssuche wie die Suche nach den richtigen Zahlen im Lotto. Eine Möglichkeit zur Lösung des Problems besteht in der Umwandlung von Grundstücken. Teils nicht genutzte, aber bereits erschlossene Flächen könnten revitalisiert werden. 

Flächen zu versiegeln, habe aber auch Nachteile, insbesondere in Anbetracht drohender Umweltereignisse. Werden Städte weiter versiegelt, könnten diese zum Beispiel bei Starkregen stark überschwemmt werden. Deshalb ist Tilo Nemuth ein Verfechter davon, bestehende Immobilien zu erneuern, gegebenenfalls aufzustocken oder umzunutzen

„Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, Gebäude so umzuplanen, das sich ihr Wert nicht mehr widerspiegelt. Einige Gebäude aus den 1960er- und  1970er-Jahren werden aufgrund bestehender alter Raumstrukturen nicht mehr weiterverwendet werden können. Was macht man mit einem alten Kaufhaus aus den 1970ern?“

Die Debatte ist brandaktuell. Ende 2022 meldete mit Galeria Karstadt Kaufhof  eine der größten Warenhausketten in Deutschland ihre Insolvenz an. Mitte März 2023 wurde bekannt, welche Standorte von einer Schließung bedroht sind. Dass der Modehändler Peek & Cloppenburg ein Schutzschirmverfahren beantragt hat, verdeutlicht die Krise in der Textilbranche. Auch Peek & Cloppenburg unterhält große Kaufhäuser in den deutschen Innenstädten. 

Wenn sich die großen Modehändler aus den Shoppingmeilen zurückziehen, kommen auch kleine Einzelhändler an ihre Grenzen. Städte werden in dem Moment unbeliebt, an dem ihre Attraktionen verschwinden. Den mehrgeschossigen Gewerbeimmobilien droht der Leerstand. Zahlreiche Kommunen stellen sich nun die Frage: Wie geht es weiter mit unseren Zentren? Erste Projektentwickler zeigen Ideen für die künftige Gebäudenutzung. Oftmals handelt es sich dabei um Mischnutzungen: Wohnen, Büros, Handel

Wie können Ressourcen gespart werden?

Menschen verbringen etwa 80 Prozent ihrer Lebenszeit in Gebäuden. Die Gebäude müssen diesem Umstand gerecht werden. Nicht jede Immobilie wird erhalten bleiben können. Da ist sich Tilo Nemuth sicher. Wo eine Modernisierung keine Option ist, stellt sich die Frage, ob ein Rückbau und die Weiterverwertung der genutzten Ressourcen möglich sind. Gemeint sind nicht nur Produkte wie Beton und Stahl, sondern auch die Ausbaumaterialien. Digitalisierungsprozesse können hierbei helfen. Denn materielle wie menschliche Ressourcen sind endlich. Je weniger Fehler in einem Projekt gemacht werden, sei es im Neubau oder in der Revitalisierung, desto mehr Geld und Ressourcen werden am Ende gespart. Davon profitieren die einzelnen Planungs-, Bau- und Handwerksunternehmen ebenso wie die Umwelt. 

Den innovativen Input holt sich Julius Berger International unter anderem von Start-ups. Die Gründer von „Popstar“ aus Wien ermöglichen die digitale Wohnungs-Konfiguration, die Softwareentwickler von „Plan4“ erstellen Kostenanalysen für Sanierungsvorhaben und die Firma „Encore“ beschäftigt sich mit der Qualitätssicherung im Bauprozess und nutzt hierfür Checklisten. 

Die Anwendung der neuen Methoden konzentriert sich bei Julius Berger zunächst auf „Randprojekte“, also auf Vorhaben auf der „Nebenstraße“, wie Tilo Nemuth erklärt. Bei sogenannten „Autobahn-Projekten“, bei denen keine Fehler passieren dürfen, setzt die Gesellschaft auf bewährte Strukturen und Methoden

Trotz aller digitaler Neuerungen braucht es Menschen, die ihr Handwerk beherrschen, die die Wand zuspachteln und ein Kabel verlegen können. Hier gilt es, die Fachkräfte im Arbeitsalltag nicht zu überfordern. Gerade Start-ups seien häufig extrem vertriebsstark.  Wenn es dann aber um die technische Umsetzung und letztlich ins Tagesgeschäft geht, gäbe es oftmals Defizite. Unter der Belegschaft sorgt das für Akzeptanzprobleme

Die Baubranche in Deutschland ist mittelständisch geprägt und dadurch sehr kleinteilig. Trotz der Vielschichtigkeit sind die Probleme in den einzelnen Unternehmen ähnlich: Fachkräftemangel, Kundenansprache und die individuelle Angebotsentwicklung für den Individualkunden sind nur einige Punkte auf der Agenda.

„Du musst Lösungen für deine Kunden haben. Und wenn du sie selber nicht hast, suche dir jemanden, mit denen du es zusammen machen kannst. Das ist ganz einfach.“

Kooperationen einzugehen, gemeinsam an einem Thema zu arbeiten, sei in diesem Kontext ein zielführender Ansatz – und zwar nicht ausschließlich mit Start-ups. 

Die Themen des DIGITALWERK Podcasts mit Tilo und Michél im Überblick:

  • Vom Maurer zum Geschäftsführer: Wie der Twist gelingt (00:02:42)
  • Warum die Baubranche an ihrer Zielgruppe vorbeibaut (00:09:21)
  • Wieso deutsche Innenstädte ein Attraktivitätsproblem bekommen (00:21:28)
  • Woran es den Start-ups noch fehlt (00:30:13)
  • Wann Kooperationen Sinn machen (00:35:04)

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