Tim-Oliver Müller (Hauptgeschäftsführer bei Hauptverband der BAUINDUSTRIE) und Michél-Philipp Maruhn (Founder & Managing Director DIGITALWERK)
January 16, 2024
Die Begriffe "Klimaneutralität" und "nachhaltiges Bauen" sind in den letzten Jahren zu Schlagworten in der Baubranche geworden. Doch was bedeuten sie wirklich? In dieser Podcastfolge setzt sich Michél-Philipp Maruhn mit Tim-Oliver Müller, dem Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie, zusammen, um genau diesen Fragen auf den Grund zu gehen.
Laut Tim-Oliver Müller ist es zunächst wichtig zu klären, was genau unter "klimaneutral" verstanden wird. Bedeutet es, dass Gebäude oder Prozesse keine CO₂-Emissionen verursachen, oder geht es um Ausgleichsmaßnahmen, die eventuelle Emissionen kompensieren?
Der Fokus liegt nicht nur auf den gesetzlichen Vorgaben, wie dem Klimaschutzgesetz, das die öffentliche Hand zur klimaverträglichen Beschaffung verpflichtet, sondern auch auf unserer gesellschaftlichen Verantwortung. Durch das Pariser Abkommen haben wir uns das Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu sein und die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen.
Zudem gibt es zwei Dimensionen von Nachhaltigkeit:
Private Dimension: Hierbei geht es um Ziele, die durch die EU-Taxonomie und durch den Rahmen von ESG (Environmental Social and Governance) festgelegt werden. Diese Kriterien helfen dabei, Nachhaltigkeit über die Finanzierung zu gewährleisten.
Öffentliche Dimension: Hier ist CO₂ die zentrale Größe. Das Ziel ist es, das CO₂-Budget nicht zu überschreiten. Es geht darum, wie bestimmte Sektoren, wie Verkehr oder Gebäude, ihre CO₂-Ziele einhalten.
Während "klimaneutral" oft als Endziel betrachtet wird, legt Tim-Oliver Müller den Schwerpunkt darauf, "klimaverträglich" zu handeln, insbesondere in der öffentlichen Sphäre. Es ist entscheidend, klare Definitionen und Standards für nachhaltiges und verantwortungsvolles Bauen und Handeln festzulegen.
Tim-Oliver Müller betont die Relevanz einer branchenweiten Lösung. Er fordert Unternehmen jeder Größe auf, sich aktiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen und betont, dass Innovation und Handlungsfähigkeit im Zentrum stehen sollten, anstatt sich nur auf theoretische Debatten zu konzentrieren.
"Jedes Unternehmen sollte sich, das ist der gute Rat, mit diesem Thema beschäftigen, allein schon mit Blick auf die eigenen Kosten, die dadurch entstehen, etwa im Bereich der Finanzierung."
– Tim-Oliver Müller
Die Zeiten, in denen die Bauindustrie ihre ökologischen Auswirkungen vernachlässigen konnte, sind vorbei. Angesichts der globalen Klimakrise und der steigenden Erkenntnis über die Notwendigkeit nachhaltigen Handelns steht die Branche unter enormem Druck, umweltfreundlichere Praktiken zu entwickeln. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch effizient zu sein.
Ein zentrales Thema des Gesprächs ist das von Tim-Oliver Müller vorgestellte "CO₂-Schattenpreis-Modell” des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie. Dieses innovative Modell bewertet den CO₂-Fußabdruck von Bauprojekten und bietet somit einen Rahmen, um den CO₂-Ausstoß effektiv zu reduzieren. Tim-Oliver betont die Wichtigkeit dieses Ansatzes und wie er Bauunternehmen dabei unterstützen kann, ihre CO₂-Emissionen zu minimieren. Dieses Modell könnte den Weg für eine nachhaltigere und verantwortungsbewusstere Bauindustrie in Deutschland ebnen.
Das Konzept des Schattenpreises für CO₂ geht über einfache ökologische Bewertungen hinaus. Es beinhaltet die monetäre Bewertung des CO₂-Fußabdrucks eines Bauprojekts. Dies bedeutet, dass Unternehmen nicht nur die direkten Kosten eines Projekts berücksichtigen, sondern auch die indirekten Umweltauswirkungen in ihre Kalkulation einbeziehen müssen. Dieser Ansatz fördert Unternehmen, effizientere und umweltfreundlichere Bauverfahren zu entwickeln.
Während Deutschland das Konzept des Schattenpreises für CO₂ erforscht, bieten Länder wie die Niederlande wertvolle Einblicke. Mit zwei Jahrzehnten Erfahrung in der Implementierung von CO₂-Preismodellen und einem starken Fokus auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung könnte Deutschland von diesen Best Practices profitieren und sie an seine spezifischen Bedürfnisse anpassen.
Es ist unbestreitbar, dass der Übergang zu einem CO₂-Schattenpreis-Modell Herausforderungen mit sich bringt, insbesondere für kleinere Bauunternehmen.
Es stellt sich die Frage, wie sich Unternehmen, insbesondere die kleineren KMU (kleine und mittlere Unternehmen), den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen stellen können. Die betriebswirtschaftliche Perspektive betont die Notwendigkeit, den CO₂-Fußabdruck zu reduzieren, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben.
Hierbei stoßen gerade kleinere Unternehmen auf Hürden: Oftmals fehlen ihnen die Ressourcen und das Know-how, um sich mit komplexen Themen wie CO₂-Schattenpreisen auseinanderzusetzen.
Die bestehende Bürokratie und Regulierungslast können insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen eine zusätzliche Belastung darstellen. Dies führt zu einer ambivalenten Haltung: Einerseits erkennen die Unternehmen die Dringlichkeit des Klimaschutzes und die damit verbundenen Marktchancen, andererseits fürchten sie die zusätzliche Bürokratie und Kosten, die mit der Umsetzung einhergehen könnten.
Ein wesentlicher Punkt ist die Rolle der öffentlichen Auftraggeber:innen. Bei Ausschreibungsverfahren für Bauprojekte könnten Kriterien wie CO₂-Schattenpreise zu einem entscheidenden Faktor werden.
Indem öffentliche Auftraggeber:innen den CO₂-Fußabdruck als Kriterium in Ausschreibungen integrieren, können sie Anreize für Unternehmen schaffen, umweltfreundlichere Lösungen zu entwickeln. Dieser Ansatz könnte einen Dominoeffekt auslösen, bei dem Unternehmen gezwungen sind, nachhaltigere Methoden zu adaptieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Für kleine Unternehmen, die nicht über die gleichen Ressourcen und Expertise verfügen wie größere Akteur:innen, könnte dies eine ernsthafte Herausforderung darstellen. Es besteht die Sorge, dass sie im Wettbewerb benachteiligt werden, wenn sie den Anforderungen nicht gerecht werden können.
Trotz dieser Bedenken ist jedoch klar, dass die Branche vor einem Paradigmenwechsel steht. Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe, müssen sich auf langfristige Veränderungen im Bereich Klimaschutz und Nachhaltigkeit einstellen. Es wird entscheidend sein, Unterstützungsstrukturen und -maßnahmen zu schaffen, die insbesondere kleinen Unternehmen helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu beeinträchtigen. Nur so kann die Bauindustrie insgesamt einen nachhaltigen und zukunftsfähigen Weg einschlagen.
Es geht nicht nur darum, die CO₂-Emissionen zu reduzieren, sondern auch um eine ganzheitliche Betrachtung des Bauprozesses – angefangen bei der Materialauswahl bis hin zur Bauausführung.
Tim-Oliver Müller präsentiert das Modell mit drei klaren Prinzipien: unbürokratisch, transparent und fair.
Was bedeutet das in der Praxis?
Unternehmen können mithilfe ihrer bestehenden Tools, wie Excel-Tabellen, den CO₂-Anteil ihrer Baustoffe präzise berechnen. Ein vereinfachtes praktisches Beispiel: Ein Beton mit 30 Gramm CO₂ pro Kubikmeter führt bei 1000 Kubikmetern zu einem CO₂-Ausstoß von 30.000 Gramm.
"Wir wollen vor der Welle schwimmen. Wir wollen einen Vorschlag präsentieren, der aus Sicht der Unternehmen marktfähig ist, der unbürokratisch, fair und transparent, das Thema CO₂ in den Blick nimmt."
– Tim-Oliver Müller
Es geht nicht nur um die Materialien. Auftraggeber:innen sind nun gefordert, detaillierte Ökobilanzen für ihre Projekte zu erstellen. Dies ermöglicht den Bauunternehmen, innovative Ansätze zur CO₂-Reduzierung zu entwickeln und den eigenen Schattenpreis zu optimieren.
Der Brückenbau zeigt, dass sogar der Straßenverkehr und die damit verbundenen Staus zu CO₂-Emissionen führen. Durch effizientere Bauprozesse und eine verkürzte Bauzeit können diese Emissionen signifikant gesenkt werden.
Die Zeiten des reinen Kostenvergleichs sind vorbei. Jetzt wird der Wettbewerb um die nachhaltigste und effizienteste Lösung geführt. Das bedeutet, dass Bauunternehmen nicht nur den Preis, sondern auch den CO₂-Fußabdruck und die Bauzeit in den Fokus rücken müssen.
Neben dem CO₂-Schattenpreis-Modell betont die Diskussion die Bedeutung von Cradle to Cradle, recycelten Materialien und anderen nachhaltigen Praktiken. Die Baubranche steht vor einer tiefgreifenden Veränderung hin zu umweltfreundlicheren und verantwortungsbewussteren Praktiken.
Mit innovativen Datenbanken wie der ÖKOBAUDAT des Bundes und anderen digitalen Tools können Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsziele konkret umsetzen und überwachen. Die Digitalisierung wird dabei als Schlüssel zur Erreichung der ehrgeizigen Klimaziele der Branche gesehen.
Die Baubranche steht vor einer entscheidenden Wendung hin zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Im Gespräch zwischen Michél und Tim-Oliver Müller wird die Bedeutung von Klimaneutralität und gesellschaftlicher Verantwortung betont. Das CO₂-Schattenpreis-Modell des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie zeigt einen innovativen Ansatz zur Bewertung des CO₂-Fußabdrucks. Während größere Unternehmen und die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen, stehen KMUs vor Herausforderungen bei der Umsetzung.
Transparenz, Effizienz und die Anpassung internationaler Best Practices sind entscheidend für die Branche, um eine nachhaltigere und zukunftsfähige Richtung einzuschlagen.
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Seit 2021 ist Tim-Oliver Müller Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie und vertritt damit die Interessen von rund 2000 Unternehmen gegenüber der Politik, der Verwaltung und der Gesellschaft. Vor welchen Umbrüchen die gesamte Branche steht und warum für die so dringend benötigten Veränderungen Standards her müssen, erzählt er im DIGITALWERK Podcast mit Michél-Philipp Maruhn.
Jetzt im Blog lesenAndreas Miltz, Geschäftsführer von RENOWATE teilt im DIGITALWERK-Podcast mit Michél-Philipp Maruhn seine Reise in die Welt der seriellen Sanierung. Das Ziel von RENOWATE ist es, die Dekarbonisierung des Gebäudebestands durch effiziente Sanierung voranzutreiben. Andreas erläutert die Herausforderungen, den Prozess der seriellen Sanierung und die Bedeutung von Know-how und Teamarbeit. Trotz anfänglicher Herausforderungen haben sie bereits mehrere erfolgreiche Projekte abgeschlossen und arbeiten kontinuierlich an Verbesserungen. Ihr Ziel ist es, die Preise in Richtung klassischer Modernisierung zu senken und die Branche weiter zu verbessern.
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