Die wachsende Bedeutung der Nachhaltigkeit im Bauwesen setzt voraus, Baustoffe anders oder neu zu bewerten. Längst reichen Preis und Funktionalität allein nicht mehr aus. Die Umweltauswirkungen von Baumaterialien über ihren gesamten Lebenszyklus rücken immer stärker in den Fokus. Ein entscheidendes Instrument zur ganzheitlichen Bewertung stellt die Ökobilanzierung (Life Cycle Assessment – LCA) dar. Dieser Artikel beleuchtet die Bedeutung der Ökobilanzierung im Kontext nachhaltigen Bauens und veranschaulicht dies anhand eines konkreten Beispiels.
Die Ökobilanz im Bauwesen ist eine umfassende Methode zur Bewertung der Umweltauswirkungen eines Gebäudes über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg. Sie betrachtet dabei alle Phasen, von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung der Bauprodukte, den Einbau, die Nutzungsphase bis hin zum Rückbau und dem Recycling und final zur Entsorgung.
Ziel der Ökobilanz ist es, die potenziellen Umweltauswirkungen der einzelnen Bauprodukte und -System im Gebäude frühzeitig zu identifizieren und diese durch passende Lösungen gegebenenfalls auch zu verbessern. Environmental Product Declarations (EPDs) spielen dabei eine entscheidende Rolle, indem sie standardisierte und transparente Informationen über die Umweltleistung von Bauprodukten liefern.
Ein Vorzeigeprojekt für nachhaltiges Bauen mit Fokus auf Ökobilanz
Das neue Verwaltungsgebäude der Saint-Gobain Brüggemann Holzbau GmbH dient als anschauliche Fallstudie für ein Bauvorhaben, bei dem Nachhaltigkeit von Anfang an eine zentrale Rolle spielte. Das Wachstum des Unternehmens und der damit verbundene Bedarf an größeren Büroflächen führten zu der Entscheidung für den Neubau eines Bürogebäudes in Holzmodulbauweise. Dabei wurde bewusst der hohe Anspruch gesetzt, ein Gebäude zu realisieren, das mit Platin die höchste DGNB-Zertifizierung erreicht.

Was sind die Anforderungen an eine DGNB-Platin-Zertifizierung?
- Das Gebäude muss in allen Nachhaltigkeitsbereiche der DGNB (Ökologische Qualität 25 %, ökonomische Qualität 25 %, soziokulturelle und funktionale Qualität 25 %, Technische Qualität 10 %, Prozessqualität 10 % und Standortqualität 5 %) gleichermaßen gut abschneiden.
- Pro Themenfeld müssen die Anforderungen zu 65 % erfüllt sein.
- Es muss ein Gesamterfüllungsgrad von mindestens 80 % erreicht werden.
- Der gesamte Lebenszyklus samt Rückbau und Recycling der Materialien wird betrachtet.
- Es werden höchste Anforderungen an die Schadstofffreiheit und Nachhaltigkeit der Materialien (Qualitätsstufe 4) erreicht.
- Es muss eine hohe Energieeffizienz erreicht werden, ebenso aber auch Barrierefreiheit und eine exzellente Innenraumluftqualität.
Welche Rolle spielt die Ökobilanz (LCA) in einem Zertifizierungsprozess?
Im Rahmen der DGNB-Bewertung ist die Ökobilanzierung (engl. life cycle assessments, LCA) aller verbauten Produkte ein essenzieller Bestandteil. Dieser Prozess umfasst die detaillierte Analyse sämtlicher im Gebäude verbauten Bauteile sowie der darin enthaltenen Produkte und Materialien. Ein Schlüsselelement hierbei sind, wie bereits erwähnt, Environmental Product Declarations (EPDs). Diese „grünen Pässe“ liefern detaillierte Informationen über den CO₂-Fußabdruck und weitere relevante Umweltdaten eines jeden Bauproduktes.
Durch die Verknüpfung der verbauten Materialmengen aus einem 3D-Model mit den Daten aus den EPDs lässt sich die Ökobilanz des gesamten Gebäudes präzise berechnen. Im Falle des Büroneubaus ging es anfänglich darum zu identifizieren, in welchen Bereichen des Bauvorhabens die größten CO₂-Emissionen entstehen, und welche Möglichkeiten zur Kompensation durch die Wahl anderer Materialien oder Bauweisen bestehen. So dienen Lebenszyklusanalysen Architekten und Planern als wertvolle Entscheidungshilfe bei der Auswahl von Bauweisen und den optimalen Materialien.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse bei der Umsetzung eines Bürogebäudes in Holzmodulbauweise?
- Erhöhter Planungsaufwand:
Ein wesentliches Learning war der zusätzliche Aufwand in der Planungsphase, der durch die Notwendigkeit entsteht, von allen relevanten Herstellern EPDs einzufordern. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit den Umweltdaten der Produkte ist hier unerlässlich.
- Verfügbarkeit und Format von EPDs:
Es zeigte sich, dass es nicht ausreicht, wenn EPDs lediglich als PDF-Dokumente vorliegen. Für eine effiziente Weiterverarbeitung in Planungstools ist es entscheidend, dass die Daten auch in einem geeigneten alphanumerischen Format zur Verfügung stehen.
- Zeitaufwand versus Kosten:
Entgegen der Annahme, dass nachhaltiges Bauen per se teurer ist, wurde deutlich, dass der primäre Mehraufwand zunächst im erhöhten Zeitbedarf für die Planung liegt. Durch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Materialien und deren Nachhaltigkeitsaspekten entsteht ein größerer Planungsaufwand. Eine wichtige Betrachtung diesbezüglich liefert auch der nächste Punkt.
- Langfristige Vorteile:
Trotz des anfänglichen Mehraufwands birgt die Berücksichtigung der Ökobilanz erhebliche langfristige Vorteile. Dazu zählen die Verwendung ressourcenschonender Materialien, die potenziell zu geringeren Kosten im Gebäudelebenszyklus führen, eine einfachere Rückbaubarkeit der verwendeten Materialien und bessere Chancen beim Wiederverkauf.
- Unerwartete Herausforderungen und Vorurteile:
Im Zertifizierungsprozess traten unerwartete Herausforderungen auf. So stellte sich heraus, dass Vorurteile bei der Bewertung ökologischer Aspekte eine Rolle spielen können. Ein Beispiel hierfür ist die pauschale Bewertung von Zellulosedämmung als ökologisch wertvoller als Glaswolle, ohne die Aspekte der Rückbaubarkeit und Recyclingfähigkeit ausreichend zu berücksichtigen.
Eine Zellulosedämmung lässt sich beispielsweise beim Öffnen einer Wand nicht ohne weiteres zurückbauen – im Gegensatz zu Glaswolle. Es wurde deutlich, dass eine ganzheitliche Betrachtung der Nachhaltigkeit auf verschiedenen Ebenen (Produkt-CO2-Fußabdruck, gesundheitliche Aspekte, Trennbarkeit, Recycling) notwendig ist und vermeintlich „ökologische“ Baustoffe nicht in allen Belangen die beste Lösung darstellen müssen.
Der Zertifizierungsprozess in der praktischen Anwendung
Der Prozess der DGNB-Zertifizierung erfordert eine umfassende Dokumentation aller verwendeten Produkte und Materialien. Obwohl es keine lückenlose, tägliche Kontrolle auf der Baustelle gibt, liegt die Verantwortung für die Einhaltung der DGNB-Kriterien primär beim Bauleiter.
Stichprobenartige Kontrollen durch die Zertifizierungsstelle sind jedoch möglich. Im Projekt des neuen Verwaltungsgebäudes der Saint-Gobain Brüggemann Holzbau GmbH wurde beispielsweise die Materiallieferung dokumentiert und auf die Einhaltung der Anforderungen geprüft. Auch Baustellenkontrollen durch eine DGNB-Auditorin fanden statt und wurden protokolliert.
Wie gelangen Anwender an Produkte mit Environmental Product Declarations (EPDs)?
Saint-Gobain zum Beispiel (https://www.saint-gobain-glass.de/de/presse-produkte-und-innovationen-unternehmens-news/saint-gobain-der-erste-epd-provider) stellte 2011 als erster Glashersteller transparente Umweltinformationen für seine Verglasungen in Form von EPDs zur Verfügung. Sie basieren auf detaillierten Lebenszyklusanalysen (LCAs), welche die Umweltauswirkungen von der Rohstoffgewinnung bis zur Verarbeitung abdecken. Die Erstellung der EPDs erfolgt nach internationalen Normen wie EN 15804 und ISO 14025.
Neben den EPDs für den Glasbereich bietet Saint-Gobain auch verifizierte EPDs für eine Vielzahl von weiteren Produktbereichen an. Eine externe Prüfung der erstellten Nachweise gewährleistet die Zuverlässigkeit und Qualität der Daten. All diese Informationen unterstützen, wie im Beispiel beschrieben, bei Green Building Zertifizierungen wie LEED, BREEAM oder DGNB. Sie ermöglichen zudem Produktvergleiche und die Ökobilanzierung auf System- bis zur Gebäudeebene.
Warum die Ökobilanz ein unverzichtbares Instrument für ein zukunftsfähiges Bauwesen ist
Die Erfahrungen aus dem Projekt der Saint-Gobain Brüggemann Holzbau GmbH unterstreichen die entscheidende Bedeutung der Ökobilanz als Kriterium für die Bewertung von Baustoffen. Eine Berücksichtigung der LCA erfordert zwar initial einen erhöhten Planungsaufwand, führt aber langfristig zu nachhaltigeren und potenziell wirtschaftlicheren Lösungen.
Eine Bereitstellung von transparenten Daten und Informationen im Bereich Nachhaltigkeit, in Form von Nachweisen wie EPDs, ist dabei unerlässlich. Für ein zukunftsfähiges Bauwesen ist es notwendig, dass sich Hersteller, Planer und Bauherren intensiv mit dem Thema Ökobilanz auseinandersetzen und zusammenarbeiten, um Gebäude zu realisieren, die nicht nur funktional und wirtschaftlich sind, sondern auch minimale Auswirkungen auf unsere Umwelt haben.